Begegnung in Berlin


Kurzgeschichte als pdf

 

Die Schaukel knarrt, als ich mich abstoße und langsam hin- und herschwinge. Mein Vater hat sie aus Fichtenstäm­men, grobgliedrigen Metallketten und Teilen eines Jochgeschirrs gezimmert. Sie knarrt genau so, wie sie immer schon geknarrt hat. Ich schwinge mich höher und höher. Mein Haar flattert im Wind und ich kann den Luftzug auf meiner Haut spüren. Ein paar Meter weiter, unter dem Kirschbaum, steht Micha. Er winkt mir. Doch er sieht mich dabei nicht an, schaut an mir vorbei hinüber zum Wald. Seine linke Gesichtshälfte liegt im Schatten. „Micha,“ rufe ich, „Micha, schau doch! Schau doch, wie hoch ich komme.“
Doch er winkt nur weiter, hin und her, ganz mechanisch, als sei er ein Roboter. Und dann  dreht er mir sein Gesicht zu. Dort, wo sein linkes Auge hätte sein sollen, ist eine leere Höhle, aus der die Maden hervorquellen. Ich schreie auf und spüre in diesem Moment, wie sich die Ketten der Schaukel aus der Verankerung lösen. Nirgendwo kann ich mich festhalten, und so stürze ich ab. Ich falle und falle und falle...

Mein Herz klopft wie wild als ich hochschrecke. Ich bin patschnass geschwitzt und fingere hektisch nach dem Schalter der Nachttischlampe. Meine Hände zittern.
Ich tappe ins Bad, spüre, dass auch die Beine zittern und schenke mir ein Glas Wasser ein. In einem Zug trinke ich es aus, fülle es gleich noch einmal und gehe damit hinüber ins Wohnzimmer. Dabei stolpere ich über eine der Umzugskisten, die darauf warten, ausgepackt zu werden. Ich bin verwirrt und zugleich hellwach, fühle mich irgendwie ... bedroht? Beunruhigt, das auf jeden Fall. An Schlaf ist jedenfalls erst einmal nicht mehr zu denken.
Der Sommer 1965. Eine Ewigkeit her. Der Sandhaufen neben der Schaukel, der Streit. Wie ich auf Micha losgegangen bin. Mit diesem abgebrochenen Ast in der Hand. Wie ich ausgeholt habe. Und er wegrennen wollte, aber dann gestolpert ist. Und der Ast nicht seinen Arm sondern sein Gesicht traf. Sein linkes Auge. Wie er die Hände vors Gesicht schlug. Wie er geschrien hat, so gellend geschrien hat. Wie er die Hände wieder weggezogen hat. Das viele Blut. Die Erwachsenen sind irgendwann herbeigestürzt, seine Mutter, meine Großmutter, mein Vater. Es gab Geschrei und Schläge, viele Schläge, die mich überall trafen. Und Micha wurde weggetragen.

Das ist Jahrzehnte lang her, doch im Moment wieder so gegenwärtig, als sei es erst gestern gewesen. Ich fange an, in den Kisten mit Büchern und Krimskrams zu wühlen. Irgendwo muss doch das alte Album sein. In der dritten Kiste werde ich fündig. Kinderbücher, Zeichnungen,  Briefe – und das dicke, verschlissene Album mit den Fotos aus längst vergangenen Zeiten.
Ich schlage es auf. Das Hochzeitsfoto meiner Eltern ... dann Vater auf dem Motorrad, Mutter im Beiwagen ... ich selbst als schlafender Säugling im Arm meiner Mutter ... dann Vater, der mich huckepack trägt ... hier ist es, eine ganze Fotoserie: Micha und Maja, beide sechs Jahre alt, beide gleich groß, Micha blond und blass, Maja dunkel und sonnverbrannt. Micha und Maja am Bach, Maja vergnügt, die Beine im Wasser baumelnd, Micha an eine Weide gelehnt, ernst. Micha und Maja, einen Puppenwagen schiebend, beide angestrengt in die Sonne blinzelnd. Der Sommer 1965, der Sommer vor der Einschulung. Micha aus Berlin und Maja, die Landpflanze. Er war mit seiner Mutter hier gewesen, damals, als die Westberliner in Scharen die DDR durchquerten um hier Urlaub zu machen. Das Fichtelgebirge war damals das erste große Feriengebiet südlich der Zonengrenze gewesen. Unser Hof lag idyllisch am Weißen Main, umgeben von Wiesen und Wald. Im Sommer vermietete meine Großmutter die Schlafzimmer an Westberliner Urlauber und wir bezogen allesamt Feldbetten auf dem Dachboden. Michas Mutter hatte das Schlafzimmer meiner Großeltern gemietet, das schönste und größte Zimmer, das mit dem Blick auf die Wiese und die großen Ahornbäume.
Ein einziges Mal hatte ich Micha dann nach dem Unglück wiedergesehen. Er trug einen dicken weißen Verband, der fast die Hälfte seines Gesichts bedeckte. Das war eine Woche später gewesen. Als ich im Dorf schon zu der Bösen geworden war, zu der, mit der keiner spielen durfte. Ich durfte auch nicht zu Micha hingehen. Nicht sagen, dass es mir leid tut. Seine Mutter stand neben ihm und hatte einen Koffer und eine Reisetasche neben sich stehen.
Ich seufze, schaue mir die Bilder lange an. Werde ich diese alte Geschichte denn niemals loslassen können?
Ein Gedanke kommt mir in den Sinn. Wie wäre es, Micha wieder­zu­sehen? Ihm endlich selbst sagen zu können, wie leid mir das tat, damals. Und wie leid es mir heute noch tut, jetzt, wo ich mich daran erinnere. Ob er noch hier in Berlin wohnt? Kann doch sein. Aber ... eigentlich kann er ja überall sein. Überall in der Welt. Vielleicht ist er gar nicht mehr am Leben. Vielleicht lebt er aber tatsächlich nach wie vor hier in der Stadt. Manche Leute bleiben da, wo sie aufgewachsen sind, ich selbst bin für niemanden ein Maßstab. Und im Zeitalter von Google und Facebook müsste es doch möglich sein, mehr über Micha herauszufinden. Einen Versuch ist es wert ...

Seither sind einige Wochen vergangen, und nun sitze ich im Café Budzinske und bin ziemlich aufgeregt. Zehn Minuten vielleicht noch, dann  werde ich ihn tatsächlich wiedersehen: Michael Bennett. Oder auch nicht. Vielleicht kommt er gar nicht.
Seine Stimme am Telefon hatte erstaunt geklungen, na klar. Wer wäre da nicht erstaunt gewesen? Er hatte sofort gewusst, wer ich bin, das wiederum hatte mich verblüfft.
„Ein Treffen? Ja, warum nicht?“ hatte er gesagt und das Café vorgeschlagen.
Wenn ich jetzt darüber nachdenke: Ob er die Idee eigentlich gut findet? Oder eher nicht? Ob er neugierig ist? Ob er vielleicht auch die Gelegenheit nutzen will, mir jetzt zu sagen, was er mir damals nicht hatte sagen können? Vorwürfe? Anklagen? Na, was erwarte ich denn? Dass jemand, dem ich wahrscheinlich ein Auge ruiniert habe, sich auf ein Treffen mit mir freut?
Ich rühre in meinem Kaffee. Es ist bereits die zweite Tasse, und ich verspüre eigentlich gar keine Lust, ihn zu trinken, lege den Löffel ab, lehne mich zurück und bemerke, dass ich die ganze Zeit mit dem Fuß wippe, zwinge mich, damit aufzuhören. An der Wand hängen Bilder eines Berliner Grafikers. Schloss Bellevue. Die Reichstagskuppel mit Kran im Vordergrund. Eine Ausstellung. „So möchte ich auch zeichnen können“, denke ich und kann mich doch nicht auf die Arbeiten konzentrieren. Schon wieder hat sich mein Fuß in Bewegung gesetzt. Ich schlage die Beine übereinander und blicke hinaus auf die Straße. Es war keine gute Idee gewesen, so früh hierher zu kommen. Doch in meiner Wohnung war ich ohnehin nur andauernd auf und ab gegangen.
Vielleicht sollte ich einfach wieder gehen.
Das Ganze vergessen.
Nein. Ich schüttle den Kopf und sehe aus den Augenwinkeln, dass die junge Frau hinter dem Tresen zu mir herüberschaut. Ich senke den Blick. Natürlich werde ich nicht einfach davonschleichen, nachdem ich Micha schließlich ausfindig gemacht habe. Natürlich werde ich bleiben. Natürlich werde ich weiter warten.
Ich sitze da und blicke hinaus auf die Straße, betrachte das Pflaster und die parkenden Autos auf dem Mittelstreifen. Erste gelbe Blätter segeln von den Kastanien. Wenn die Sonne sie anstrahlt, leuchten sie kurz auf, bevor sie zu Boden sinken.

Berlin. Als Kind habe ich mir oft vorgestellt, wie es sein mag, hier in Berlin zu leben. Wo jeder tun kann, was er will und keiner dauernd auf die Nachbarn guckt. Der kleine Ort, in dem ich aufgewachsen bin, ist mir früh schon zu eng geworden. Wer nicht zur Dorfgemeinschaft gehörte, hatte dort schlechte Karten. Einmal ausgeschlossen, immer ausgeschlossen. Irgend­wie war ich für die anderen immer „die mit dem Auge“ geblieben und es kursierten die wildesten Gerüchte über das, was geschehen war. Der arme Junge. Völlig entstellt. Für immer halb blind. Das böse Mädchen. Mit der wird’s mal übel enden. Bei der Einschulung wollte keiner neben mir sitzen. Ich blieb für mich. Lernte. Strebte. Wollte nur eines: Raus hier. Kaum hatte ich die Schule hinter mir, zog ich in die nahe­gelegene Kreisstadt, machte eine Lehre und es war mir egal, dass ich mit meinem kargen Lohn mehr schlecht als recht über die Runden kam und in einem Kellerloch hausen musste. Ich hatte bald meinen Gesellenbrief in der Hand und schließlich auch den Meisterbrief. Zog noch weiter weg und reduzierte meine Heimatbesuche auf ein unum­gängliches Minimum.
Ja, und seither lebe ich mal hier und mal da, bin nirgends länger als ein paar Jahre geblieben. Ob ich jemals sesshaft werde? Eher unwahrscheinlich, doch falls ja, dann vielleicht hier in Berlin.

Ein Mann betritt das Café. Er ist groß, bestimmt einen Meter neunzig, schlank, fast hager, hat dichtes helles Haar, sieht sich suchend um. Ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf steigt. Mein Herz klopft wieder wie wild. Mir ist nach Lachen, Weinen, Wegrennen zu Mute. Doch er hat mich schon entdeckt und steuert auf meinen Tisch zu.
„Maja?“
Ich kann nur nicken und starre ihn an, mache dann eine fahrige Geste auf den Stuhl gegenüber. Er setzt sich, rückt mit dem Stuhl etwas vom Tisch weg und sieht mich nun auch an. Aus zwei Augen.
Und ich senke den Blick. Er ist es. Natürlich, er ist es.
Schweigen breitet sich aus.
Jetzt, wo er da ist, weiß ich nicht, was ich sagen soll.
Auch Michael sagt nichts, und ich spüre seinen Blick auf mir ruhen. Ich zwinge mich, den Kopf zu heben und in seine Augen zu schauen. Sie sind immer noch so intensiv blau. Beide.
Er lacht. „Was ist denn? Hab’ ich einen Fleck auf der Backe?“
Meine Gedanken drehen Pirouetten. „Ich dachte ... ich meine ... weißt du ...“. Ich kriege keinen vernünftigen Satz zusammen.
„Dein Auge ...“ sage ich schließlich.
„Wie, was ... mein Auge? Welches?“
Ich deute nach links.
Jetzt fällt der Groschen. „Ach so, der Unfall ...“ Er runzelt kurz die Stirn, lächelt dann. „Das weißt du noch?“
Ich nicke und frage dann zaghaft: „Alles in Ordnung damit?“
Die Frage aller Fragen.
„Na klar. Was soll denn sein? Die in der Uniklinik haben’s in Ordnung gebracht. Und die Schwestern haben mir erzählt, was für ein tapferer kleiner Junge ich bin, dabei hatte ich doch von der OP gar nichts mitgekriegt.“ Er lacht. „Mensch, war das eine tolle Zeit damals bei euch auf dem Hof. Meine schönsten Ferien.“
Jetzt bin ich sprachlos.
Und er redet weiter. „Weißt du noch, als du mir das Bachspringen beigebracht hast? Und wie wir auf die Felsen in der Sandgrube geklettert sind? Ich hatte ja so was von Schiss. Dachte immer, meine Mutter würde gleich auftauchen. Du weißt ja, die hätte mich ja am liebsten in Watte gepackt und in die Vitrine gestellt. Nichts durfte ich. Alles zu gefährlich.“
Er legt seine Hand auf meinen Arm und schaut mich an. „In dem Sommer habe ich mich zum ersten Mal was getraut. Bin gerannt, geklettert, im Bach rumgesprungen, hab’ mich sogar auf das Pferd heben lassen ­– es hieß Max, nicht wahr?“
Ich nicke wieder. Mir fehlen immer noch die Worte. Ich kann kaum glauben, was er erzählt. Nein, was er erzählt schon, aber wie er es erzählt.
„Ich habe dich so bewundert,“ sagt Michael jetzt, „du warst so ... so unerschrocken, so mutig. Du warst so, wie ich gerne sein wollte.“ Er strahlt mich an.
Ich schüttle den Kopf. Kann doch gar nicht sein, dass er so was sagt.
„Doch! Genauso war es. Und, weißt du,“ seine Stimme ist nun ganz nah an meinem Ohr, „wenn ich später mal wieder vor etwas Schiss hatte, habe ich mich immer gefragt: Was würde Maja jetzt tun? Das hat mich dann richtig angespornt.“
Er lächelt, und ich will auch lächeln, aber ich fange an zu weinen, ich kann gar nicht anders. Die Tränen laufen einfach von selber aus den Augen. Jahrzehnte des Kummers laufen heraus. Ich schniefe, und als ich meine Stimme wieder einigermaßen im Griff habe, sage ich nur ein Wort: „Danke.“ 

 

Sigrid Engelbrecht, 14.09.2012