Das amerikanische Päckchen

 

Fast die Hälfte ihres ersten Schuljahres war Annika krank gewesen und hatte oft wegen Husten, eitriger Mandelentzündung und Fieber das Bett hüten müssen. Glücklicherweise brachte ihr eine Klassen­kameradin immer die Hausaufgaben, wenn sie wieder einmal auf der Nase lag. Annika setzte alles daran, den Anschluss nicht zu verlieren. Außerdem vertrieb das Lernen die Langeweile. Sie hatte keine Geschwister, und ihre Eltern kamen erst am Abend von der Arbeit zurück. So war sie auf sich selbst gestellt und versuchte, das Beste daraus zu machen. Manchmal stieg sie aus dem Bett und zog mit ihrem Bettzeug auf die Couch im Wohnzimmer um, spielte mit dem Besteck in den Schubladen und baute Türme aus Holzbechern, malte Figuren und schnitt sie aus.
Sehnsüchtig schaute sie die Sachen an, die in der Vitrine standen. Mit ihnen durfte sie nicht spielen, das waren die „besonderen Dinge“. Ein Vogel mit einem Gefieder aus buntem Glas, eine reich mit Muscheln verzierte Schale, eine schlanke Vase mit gelben und grünen Streifen und eine Puppe, so wie Annika noch nie eine Puppe gesehen hatte: Sie war weich und ganz und gar aus verschiedenfarbigen Stoffen gemacht, hatte ein gesticktes Gesicht mit großen, traurig schauenden Augen. Dicke braune wuschelige Wollhaare umgaben das feine Gesicht. Sie trug einen üppig bestickten, weit schwin­genden Rock, eine weiße Bluse mit weiten Ärmeln und ein schwarzes, geschnürtes Bolero. Wenn man genau hinschaute, erkannte man, dass die Stickerei auf dem Rock eine spiralförmige Bordüre war, die rundum lief. Annika betrachtete sie oft. Sie hätte gerne mit der Puppe gespielt, aber das durfte sie nicht.
Das ist das letzte, was ich noch von Mama habe, hatte ihre Mutter ihr gesagt und in ihren Augen hatten Tränen geschimmert. Annika seufzte. Sie hatte ihre Großmutter nie kennengelernt. Es wurde auch nie über sie gesprochen. Sie war, so hieß es, einfach verschwunden, von einem Tag auf den anderen. Annika hatte die Puppe insgeheim Sonja getauft, weil sie selbst auch gerne Sonja geheißen hätte. Doch so sehr sie sich auch danach sehnte, mit Sonja zu spielen - sie ließ sich nicht aus der Vitrine entführen, auch nicht heimlich, denn die Vitrine hatte ein Schloss und das war zugesperrt.   

An dem warmen und sonnigen Sommertag, als eine Klasse amerikanischer Kinder zu Besuch in die kleine Dorfschule kam, war Annika gerade wieder von einer dieser hartnäckigen Infektionen genesen. Sie stand, blass aber gesund, zusammen mit den anderen Erstklässlern auf dem Pausenhof der kleinen Dorfschule und schaute neugierig zu den Kindern hinüber, die unter der Linde standen und ebenso neugierig herüber­blickten. Kinder, die ganz anders angezogen waren als Annika selbst und als alle Kinder, die sie kannte. Die Kinder kamen „von über dem Meer“, wie gesagt wurde und die meisten trugen lange Hosen und bunte Pullis, auch die Mädchen.
Später, als alle Kinder zusammen im Klassenzimmer saßen, wurde viel herumgealbert, es wurden Grimassen geschnitten und überhaupt redeten bald alle mit Händen und Füßen und lachten viel.
Die Lehrerin der amerikanischen Kinder hielt eine Ansprache. Sie redete auf Deutsch, doch in Annikas Ohren klang es ganz ulkig. Sie schaute die blonde Frau in dem hübschen moosgrünen Kostüm mit großen Augen an, als sie sagte, sie hätte für die fünf besten Schülerinnen und Schüler der deutschen Schule Geschenke mitgebracht. Es gab ein großes Hallo, als die Namen aufgerufen wurden. Der letzte der fünf Namen lautete Annika Heidenreich. Annika sprang auf. Ihr Herz klopfte, als sie nach vorne ging und ihr Päckchen entgegennahm. Sie machte artig einen Knicks und bedankte sich. Es war, als würde sie auf Wolken schweben. Sie hatte nicht nur die Klasse geschafft, sondern sie gehörte sogar zu den fünf Besten! Ihre Eltern würden stolz auf sie sein!

Annika konnte es kaum erwarten, das Päckchen aufzumachen. Was mochte darin sein? Mit zittrigen Fingern löste sie die Schnur und zupfte die Verpackung auf. Neben Süßig­keiten und einem Glas Erdnussbutter war da auch eine rot-weiße Zahnpasta drin, die, wie sie später herausfand, nach Kaugummi schmeckte und auch ein riesiger, ganz weicher grüner Radiergummi, den natürlich alle gleich ausprobieren mussten. Doch es gab noch ein Geschenk, das von einer glatten grünen Hülle umgeben war. Annika löste sie ung­duldig – und erstarrte. Darin lag Sonja! Das konnte doch nicht sein.

Auch ihre Mutter wurde bleich, als sie sah, was Annika mitgebracht hatte. Keine Rede mehr von den tollen Leistungen ihrer Tochter, und Annika konnte das, so jung sie auch noch war, verstehen. Die Mutter sah aus, als hätte sie ein Gespenst gesehen.
„Und du hast die Puppe von den Amerikanern bekommen?“ fragte sie nun wohl zum fünften Mal.
Annika nickte. „Ja, Mutti.“
„Und nur du hast so eine Puppe bekommen?“
Annika nickte.
Die Mutter hatte die Vitrine aufgesperrt und Sonja herausgenommen. Annika hatte Sonja verstohlen über den Rock gestrichen und die Mutter hatte sie nicht zurechtgewiesen. Die beiden Puppen lagen nebeneinander auf dem Wohnzimmertisch. Mit ihren traurigen Gesichtern, ihren wuscheligen Haaren, bestickten Röcken und weißen Blusen sahen sie aus wie Zwillingsschwestern.
„Das gibt es nicht“, sagte die Mutter. Wohl auch zum fünften Mal.
Sie nahm die neue Puppe hoch, die Annika schon Rosi getauft hatte.
„Schau“, sagte sie zu Annika, „die Stickerei.“ Sie las: „Het ích vil edele gesteine, daz müesste ûf iuwer haobet óbe ir mirs geloubet.“
„Was heißt das?“ fragte Annika.
„Das ist eine alte Sprache, so wie die Leute ganz früher geredet haben“, erwiderte die Mutter, „es heißt ungefähr: ‚Hätte ich kostbare Edelsteine, die müssten auf Euer Haupt, wenn Ihr mir das glauben wollt.’“
Annika kicherte. „Das klingt komisch.“
„Ja“, sagte die Mutter leise und starrte Rosi, dann Sonja und dann wieder Rosi an.
„Guck mal, das da sieht anders aus“, rief Annika und deutete auf den Rock von Sonja.
Die Mutter nickte nur, denn diesen eingestickten Text kannte sie und hatte ihn oft und oft gelesen. Sie zitierte:
„Nemt, frouwe, disen kranz! álsô sprach ich zeiner wol getânen maget, sô zieret ir den tanz.“ Und das heißt: „Nehmt, Herrin, diesen Kranz!“ so sprach ich zu einem schönen Mädchen, „dann zieret Ihr den Tanz.“
Annika erwiderte nichts, sondern betrachtete fasziniert erst den Rock von Sonja und dann den von Rosi. Ihre Mutter fuhr fort: „ Mama hat immer Zeilen von diesen alten Gedichten in die Röcke gestickt. Jede Puppe hatte ihre eigenen Zeilen. Keine zwei waren gleich.“

Am Abend erfuhr Annika dann endlich, was es mit ihrer Großmutter auf sich hatte. Die Mutter hatte auch eine verblichene braunfleckige Fotografie aus dem Kästchen in der Vitrine geholt und sie auf den Tisch gelegt. Darauf war eine schöne junge Frau abge­bildet mit rabenschwarzen Haaren und großen dunklen Augen.
„Deine Großmutter hatte Ahnungen“, sagte die Mutter, „sie konnte in die Zukunft sehen – manchmal. An bestimmten Tagen, zu bestimmten Zeiten. Sie hat Dinge gesehen, die erst geschehen werden. Und sie konnte zaubern. Ein bisschen.“
Annika durchlief ein Schauder.
„Wir haben dir nichts davon gesagt“, fuhr die Mutter fort, „damit du es nicht weiter­erzählst. Nicht nur im Dritten Reich haben sich Leute verdächtig gemacht, die Dinge vorher sehen können. Hellsichtige wurden zu allen Zeiten verfolgt. Auch heute hält man über so etwas lieber den Mund.“ Sie seufzte leise.
„Damals, noch bevor der Krieg losging, hat deine Großmutter gesehen, wie alles enden würde, hat die Verfolgungen gesehen, den Krieg und den Untergang. Sie wollte die Menschen warnen. Nur wenige haben ihr wirklich geglaubt, die meisten hielten sie für verrückt. Und als das Regime seine Vernichtungslager errichtet hatte, genau so, wie sie es vorhergesagt hatte, war es eine Frage der Zeit, bis sie selbst dorthin transportiert werden würde. Als Aufwieglerin. Oder als Verrückte.“
„Ist sie tot?“ fragte Annika mit weit aufgerissenen Augen. Der Vater strich ihr beruhi­gend über das Haar und schüttelte den Kopf.
„Niemand weiß etwas. Als die Gestapo anrückte, um sie abzuholen, war sie verschwun­den. Einfach weg. Die Schergen waren wütend. Sie haben die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt, Möbel zerschlagen, Sessel aufgeschlitzt. Dann sind sie wieder abgezogen.“
„Und du?“
„Ich war nicht zu Hause. War für ein paar Tage mit einer Freundin und ihrer Familie an der Ostsee. Vielleicht hatte sie auch vorgeahnt, was passieren würde... ich weiß es nicht.“
Der Vater lächelte Annika beruhigend zu. „Und weil Tante Hilde Mutti in dieses kleine Dörfchen hier verfrachtet hat, habe ich sie dann getroffen.“
Annika nickte und schaute ihre Eltern an. Den Teil der Geschichte kannte sie. Wie Mutter und Vater sich kennengelernt und später geheiratet hatten, wie sie selbst zur Welt gekommen war...
„Ich habe sie nie wieder gesehen.“ sagte die Mutter. „Und alles, was mir von ihr blieb, ist dies.“ Sie deutete auf Sonja. „Mama hat viele solche Puppen gemacht. Sie wurden in einer Kunsthandlung in Frankfurt verkauft. Die gibt es heute nicht mehr. Nach dem Krieg war alles kaputt. Alles.“

Fünf Wochen später ließ Annika sich mit strahlendem Gesicht in einen der bequemen Bordliegestühle plumpsen. Ihre Mutter, die schon im Liegestuhl daneben Platz genommen hatte, reichte ihr eine Sonnenbrille. Sie hatten sie beide in Hamburg zusammen mit anderen Sachen für die Reise nach New York ausgesucht. Annika blinzelte durch die braunen Gläser und sah den Möwen nach, die ihre Runden vor der Reling drehten. Niemals zuvor hatte sie echte Möwen gesehen. Niemals zuvor hatte sie ein echtes Schiff gesehen. Niemals zuvor hatte sie ihre Mutter so lange voll und ganz für sich gehabt ...
Annika war glücklich.
Hinter ihr lagen turbulente Wochen. Das amerikanische Päckchen mit Rosi darin hatte für jede Menge Aufruhr gesorgt. Vater und Mutter hatten viel telefoniert und waren schließlich zur amerikanischen Botschaft und dann auch noch ins Außenministerium nach Bonn gefahren. Es gab Nachforschungen bei den Behörden beiderseits des Ozeans, die die Schulklassenfahrten organisiert hatten und weitere Nachforschungen, was die Spenden für die Päckchen betraf. Und schließlich war klar: Es gab tatsächlich eine Mathilda Maria Fahrenbach, wohnhaft in New York, Manhattan Beach. Sie war sechzig Jahre alt und Inhaberin eines Kunstgewerbeladens namens Maria’s. Die Mutter hielt Annika an sich gedrückt, als sie es ihr erzählte.

Annika räkelte sich, Sonja in ihrer rechten Armbeuge, Rosi in ihrer linken und lauschte dem sanften Schwappen der Wellen und den Schreien der Seevögel. Sie war neugierig auf ihre Großmutter, und doch hatte sie irgendwie auch das Gefühl, sie schon zu kennen. Sie sah deutlich eine Frau mit weißen und schwarzen Haaren und großen dunklen Augen vor sich, die sie beide abholen würde. Die Frau war groß und hielt sich sehr gerade. Sie sah freundlich aus und ihre Augen leuchteten. Das Bild hatte sich in den letzten Stunden immer mehr verdichtet. Annika wusste auch dass sie dann zu einem Ort gehen würden, der so ähnlich wie Koni Eiländ klang, dass sie Eis essen und mit einem Riesenrad fahren würde.

Als die Sonne kurz von einer luftigen Schönwetterwolke verdeckt wurde, zog ihre Mutter ihr fürsorglich die Decke über die Beine. Annika lächelte. Wie sie wusste, war das ganz unnötig. Seitdem Rosi zu ihr gekommen und Sonja endlich der Vitrine entronnen war, war sie nicht einen Tag mehr krank gewesen.

 

Sigrid Engelbrecht, Februar 2013