Die Erzählerin

 

„Und wie geht die Geschichte weiter?“ fragt Imrit und sieht mich erwartungsvoll an.
„Ja, und dann ...“ beginne ich und breche ab.
Ja, wie geht diese Geschichte weiter? Ich weiß es und ich weiß, dass ich es weiß – doch es nützt nichts. Jetzt, in diesem Moment, ist dieses Wissen verschwunden. Jetzt sitze ich nur da und fühle Hitze in mir aufsteigen. Ich kann mir nicht ins Gedächtnis rufen, was der siegreiche Held Artega getan hat, nachdem er mit seinen Leuten aus der Höhle gekommen ist, um sich dem Kampf zu stellen. Und gegen wen hat er eigentlich in dieser Schlacht gekämpft?
Ich schlucke, ringe mir dann ein Lächeln ab und sage: „Weißt du, Imrit, das erzähle ich dir dann weiter, wenn du wieder zu mir kommst.“
Das kleine Mädchen senkt enttäuscht den Kopf.

Nachdem Imrit gegangen ist, verlasse auch ich klopfenden Herzens das Zelt und mache mich auf den Weg hinaus in die Weite der Steppe. Ich muss jetzt alleine sein und mich der Angst stellen, die mich überflutet hat. Kaum nehme ich das Grüßen und Winken der Angehörigen meines Stammes wahr, die mir unterwegs begegnen. Ja, ich bin eine angesehene Person, das ist mir bewusst und die anderen zeigen mir Ehrerbietung. Das macht ja alles so schlimm. Ich bin die Erzählerin, das Gedächtnis des Stammes, die zweithöchste im Rang hier, gleich nach Brego, dem Stammesführer.
Ich bin erleichtert, als ich die Zeltstadt hinter mir lasse und über die harten Büschel des Steppengrases gehe. Was soll ich nur tun? Es ist jetzt schon das dritte Mal passiert, dass ich den Fortgang einer Geschichte einfach nicht mehr weiß. Beim ersten Mal habe ich mich dann kurz danach wieder entsonnen und das hat mich sehr erleichtert. Beim zweiten Mal ist die Erinnerung verschollen geblieben. Und nun das! Ich fühle mein Herz klopfen. Imrit wird es ihrer Mutter erzählen, ihre Mutter wird es weiter erzählen und irgendwann erfährt Brego davon...

Ich bin doch noch nicht alt. 5 x 10 Weidegänge und drei noch dazu. So viele sind es jetzt, das ist ganz genau so auf meinem Kerbholz eingeritzt. Und als gute Erzählerin könnte ich noch weitere 2 x 10 Weidegänge im Amt bleiben, wenn nicht ... ich blicke hoch zum Berg, den wir den Rabenstein nennen. Wir werden noch einige Zeit hier lagern, bevor wir dann, wenn sich die Blätter färben, in unser Lager am südlichen Wasser hinabsteigen. Im nächsten Jahr, wenn der Schnee geschmolzen ist, machen wir einen neuen Weidegang und ziehen mit unseren Kühen, Schafen und Ziegen wieder hier herauf. Der Rabenstein ist der Ort, wo meine Vorgängerin heim zur Großen Mutter gegangen ist. Alle Erzählerinnen gehen dorthin, wenn es zu Ende geht. Es gibt ein großes Fest und einen ehrenvollen Abschied, und dann zieht sich die Erzählerin würdevoll auf den Berg zurück und wartet dort, bis sie von der Mutter gerufen wird und im Großen Ganzen aufgeht. So ist es Brauch.
Matti, meine Vorgängerin, musste mehr oder minder auf den Berg hinaufgeschleift werden, sie hat geschrien und gebettelt. Wie schmachvoll! Das werde ich natürlich nicht tun, denn dann käme ich ins schlechte Angedenken bei den Nachfahren. Und ich wäre es nicht wert, einen Platz auf einem Bildteppich zu bekommen. Leute, die sich erbärmlich verhalten, werden aus unserem Gemeinschafts-Gedächtnis ausgeschlossen.

Die Bildteppiche erzählen die Geschichte des Stammes. Sie werden aus der Wolle unserer Schafe gewebt und die Wollfäden sind dabei unterschiedlich eingefärbt: mit Indigo, Beeren und Hagebutten, Birkenrinde, Wurzeln und verschiedensten Blättersorten. Jeder Teppich erzählt eine Geschichte und die Teppiche werden von Generation zu Generation weitergegeben. Ein Bildteppich ist nicht dazu gedacht, darauf herumzulaufen, sondern wir hängen diese Teppiche an die Wände unserer Zelte und wenn wir weiterziehen, gibt es für sie einen eigenen Wagen. Bei der Familie des Stammesführers und bei der Erzählerin hängen die Heldengeschichten, Geschichten, die unseren Stamm als Ganzes betreffen. Damit wir nie vergessen, wer wir sind. Es liegt in der Oberhoheit der Frauen, die Bildteppiche anzufertigen, und die Erzählerin spielt dabei natürlich eine wichtige Rolle. Wenn ein Teppich alt und brüchig geworden ist, wird ein neuer Teppich mit genau den gleichen Motiven hergestellt, der den alten ersetzt. Auch alle meine Vorgängerinnen - außer der schmachvollen Matti – sind mit der Geschichte ihres Lebens in einem eigenen Teppich verewigt worden.

Ich seufze und schaue weiter den Berg hinauf. Bin ich bereit für die Heimkehr in die Ewigkeit, falls mein Stamm das jetzt so beschließen würde? Keineswegs. Da brauche ich mir nichts vorzumachen. Ich habe nur einfach Angst. Angst davor, dass es schlimmer wird mit den Lücken in meinem Gedächtnis und dass es aus sein könnte mit mir. Meine Nachfolgerin, Rachdam, die ich anlerne, verfügt schon über großes Wissen, was die Geschichte des Stammes angeht. Wenn ich ihr nichts mehr zu sagen habe, ist diese Aufgabe zu Ende und meine Zeit abgelaufen. Ebenso, wenn sich die Kunde verbreitet, dass ich meinem Amt nicht mehr gerecht werde.

Jede Erzählerin teilt sich die Vermittlung des Wissens in Etappen auf. Es wäre unklug, jedem alles preiszugeben - eben auch nicht der Nachfolgerin, die der Erzählerin Sommer um Sommer folgt und aus deren Wissen schöpft und so immer mehr selbst in das Amt hineinwächst. Als Erzählerin muss man also die Weitergabe des Wissens ganz sorgfältig über viele Weidegänge hinweg aufteilen. Wer sich selbst überflüssig macht, dem bleibt nur der Rabenstein.
Ich wende den Blick vom Berg ab und setze mich wieder in Bewegung. Was soll ich nur tun?

Eine Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Es ist Rachdam, die rasch auf mich zukommt und meinen Namen ruft. „Mara! Mara, warte doch.“
Ich halte inne. Rachdam ist eine hochgewachsene junge Frau, die ihr Haar zu einem glänzenden schwarzen Zopf geschlungen hat. Der Zopf ist so lang, dass sie ihn sich zweimal um den Kopf legen kann. Das steht ihr gut. Sie lächelt mich an.
Rachdam ist beim Wettbewerb um meine spätere Nachfolge mit Abstand als Siegerin hervorgegangen. Gewinnerin ist immer diejenige, die auf ein Stichwort hin die meisten Epen und Erzählungen aus der Geschichte des Stammes fehlerfrei wiedergeben kann. Ich denke an meine eigene Ernennung zurück. Wie stolz ich gewesen bin! Dabei hatte ich doch nur ganz knapp gegen Murti gesiegt, die mir deswegen bis heute gram ist. Sollte ich ins Gerede kommen, wird Murti die Erste sein, die die anderen davon zu überzeugen versucht, dass ich ersetzt werden muss, da kann ich mir sicher sein.
Ich gebe mir einen Ruck und gebe mir Mühe, Rachdams Lächeln zu erwidern. Sie hält an und streicht mir leicht über den Arm. „Ich muss dir etwas sagen!“
Schon merke ich, wie mein Herz wieder anfängt, heftiger zu schlagen.
„So?“ bemerke ich scheinbar leichthin.
Rachdam sieht mich an. Ihre großen schwarzen Augen bohren sich förmlich in meine. Dann wendet sie den Blick ab. „Ich gehe zu Tanjot.“
„Nein!“ entfährt es mir spontan. Zu jemanden gehen, heißt, mit ihm eine Familie zu gründen. Eine Erzählerin geht zu niemanden. Eine Frau, die sich entscheidet, sich um dieses Amt zu bewerben, weiß, dass sie für sich bleibt. Ihr ganzes Leben lang. Was nicht heißt, mit niemanden das Lager zu teilen, hin und wieder mal. Das wird nicht gern gesehen, aber doch geduldet.
Rachdams Augen füllen sich mit Tränen. „Ich werde Mutter,“ sagt sie, „und ich will dich bitten, für mich einzutreten. Ich liebe Tanjot. Ich kann ohne ihn nicht leben.“

Meine Gedanken überschlagen sich. Tanjot! Der älteste Sohn von Brego. Wenn Brego bereit ist, die Verbindung gutzuheißen und der Stammesrat das absegnet, dann ... wird es einen neuen Wettbewerb geben und eine neue Nachfolgerin bestimmt, dann ... wird es etliche Sommer Zeit brauchen, die Neue anzulernen... und wenn ich Rachdam unterstütze, wird sie mir dankbar sein... Rachdam hat keinerlei Probleme mit ihrem Erinnerungsvermögen ... sie wird mir helfen...
Ich schließe die junge Frau in die Arme.
„Natürlich“, sage ich, „gerne werde ich für dich eintreten. Eine große Liebe verdient es, gelebt zu werden.“

 

Sigrid Engelbrecht, Oktober 2012