e-Blog


12. März

Ich starte meinen e-Blog in Berlin, werde drei Tage hier sein auf der Suche nach literarischen Kontakten, nach Inspiration und Austausch. Es ist natürlich nicht besonders spannend, den Blog mit Bemerkungen zum Wetter zu beginnen ... aber: nach wochenlangen Wolkenbänken ist es einfach herzerwärmend, blauen Himmel und Sonne den ganzen Tag zu genießen. Was will ich, außer vor dem "Graffiti" am Kudamm Eiskaffee zu trinken und mir die Sonnenstrahlen unter die Haut gehen zu lassen? Neben beruflich intendierten Interessen und Terminen will ich einfach durch die Stadt streifen und mich inspirieren lassen ... und bin dabei auf der Suche nach mir selbst, so abgedroschen dieser Satz auch anmuten mag. Vor über dreißig Jahren habe ich hier studiert, im damaligen "West-Berlin". Mein damaliges Ich und mein heutiges Ich unterscheiden sich in vielen Punkten, na, logisch, da ist eine Menge Lebenserfahrung dazugekommen. Und trotzdem: Als ich nach langen Jahren im Dezember 2005 wieder auf der Kreuzung Ringstraße / Holbeinstraße stand, fühlte ich mich so als sei keinerlei Zeit zwischen damals und heute vergangen. Als sei ich, aus Dahlem kommend, einfach auf dem Heimweg, wie zig Male zuvor in diesen alten Zeiten, als mein Leben zu 90 % aus Büchern, Seminarskripten, Lehrveranstaltungen und Diskussionen bestand. Heute: Anders und doch nicht anders ...

Der 12. März ist gleichzeitig der 30. Todestag meines Vaters. Dies fiel mir heute Morgen schlagartig ein, als ich aus dem Fenster schaute, wo sich der strahlend blaue Himmel über den Dächern wölbte und es gab mir den Impuls, jetzt hier und heute mit einem Blog über "Identität" zu beginnen. Der 12. März 1977 war ein eher trüber Tag nach meiner Erinnerung, aber so genau weiß ich das nicht mehr. Ich stand in Bayreuth in der Intensivstation des Klinikums und merkte erst nach einer Weile, dass ich zitterte und weinte. Mein Vater lag da, die Augen geschlossen, das Kinn mit einer Art Bandage hochgebunden. Er sah nicht friedlich aus. Er sah aus wie zu Lebzeiten: Einsam. Er war einsam gestorben. Ohne seine Frau, ohne seine Tochter noch einmal zu sehen. Einsam. Wo ist er hingegangen?

Heute scheint es mir so, dass die Frage: "Was ist Identität?" in dieser damaligen Situation ihren Ursprung hatte.


15. März

Unterwegs von Berlin nach Bamberg: Eine Lesung. Ich liebe Zugfahrten. Sie haben so etwas Zeitloses. Wenn ich im Zug sitze, fühle ich mich entspannt, und, wenn die Landschaft scheinbar rhythmisch vorbeizieht, auch irgendwie etwas wie in Trance. Dieser Effekt ist noch stärker, wenn ich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitze, die Landschaft also stetig aus dem Blickfeld zu entschwinden scheint. Ich Bäumen, Häusern, Flüssen, Gräben, Straßen, Wegen "nach"-sehe. Macht manchmal etwas melancholisch. Und ab und an bin ich gerne melancholisch.

Identität. In meinem Buch "Heiße Jahre" habe ich Bezug genommen auf die "identitätsstiftende Phase", die die Biografie-Forscher im Zeitraum zwischen 15 und 25 Jahren ansiedeln. Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal etwas über das Phänomen des "Erinnerungshöckers" las, war ich sofort fasziniert. Reines Bauchgefühl, etwas wie: da musst du hin. Das habe ich öfters, dass in all der vielfältigen Informationen, die so ein durchschnittlicher Tag mit sich bringt, etwas ist, was diese spezifische Resonanz bewirkt: "da musst du hin". "Da-Hinmüssen" bezieht sich eher selten auf einen Ort, sondern meint meist: damit musst du dich beschäftigen. Diesem Gefühl gehe ich IMMER nach, denn es hat sich gezeigt, dass da am Ende des Regenbogens stets ein Schatz auf mich lauert.

"Besonders nachhaltig prägen sich die Weltereignisse und die gesellschaftliche Atmosphäre ein, die ein Mensch zwischen etwa 15 und etwa 25 erlebt. Gerade diese Zeit, so hat die Wissenschaft herausgefunden, prägt unsere Weltsicht ganz erheblich. Mir persönlich fällt dazu ein: Die Frauenbewegung, die Rock- und Popkultur der 70er, Jimi Hendrix, die Rolling Stones, Janis Joplin, Anti-Atomkraft-Demonstrationen, die Farbe „aubergine“, Fransenjacken und Maxiröcke. Filme und Bücher, die Eindruck auf mich gemacht hatten. Eine prägende Zeit - für viele auch unserer heutigen Vorlieben und Abneigungen. Unser Gedächtnis räumt jener Zeit eine lebenslange Sonderrolle ein: Sogar im Alter erinnern sich Menschen an besonders viele Erlebnisse aus gerade diesen Jugend- und jungen Erwachsenenjahren. Biografieforscher sprechen von einer Art „Erinnerungshöcker“, der sich von den deutlich blasseren Bildern aus der Kindheit und dem mittleren Erwachsenenalter deutlich abhebt (...)"

aus: "Heiße Jahre - voller Energie durch die Wechseljahre", Seite 45/46.

Lange bevor ich dies formulierte, hatte ich wochenlang die unterschiedlichsten Menschen befragt: Freundinnen und Freunde, Geschäftspartner, Kollegen ... versuchte, möglichst unauffällig im Gespräch überzuleiten zu der Frage: "Was waren eigentlich besonders bewegte und prägende Zeiten in deinem/Ihrem Leben?" - Und siehe da: fast alle schilderten Begebenheiten aus dieser "identitätsstiftenden" Phase zwischen 15 und 25, und was mir besonders auffiel, waren die leuchtenden Augen und die "jüngere" Stimme.

16. März

Und wieder sitze ich im Zug. Wieder sehe ich Landschaften vorbeiziehen, trinke Kaffee und frage mich wie so oft: Wer ist eigentlich die, die dies hier schreibt? Wer oder was ist dieses Bewusstsein, das unablässig reflektiert was rund um es herum vorgeht? Und ich frage mich natürlich auch: wer oder was sind die "Bewusstseins" hier in diesem ICE von München nach Nürnberg? Ich studiere möglichst unauffällig Gesichter und versuche, mir vorzustellen, wie es "darunter" zugeht. Es gelingt mir natürlich nicht. Letztlich fange ich immer an zu staunen, wenn ich mir bewusst mache, dass wir alle einzelne reflektierende Bewusstseinspunkte auf diesem Planeten sind. Dass z.B. der Mann, der grade mir schräg gegenüber sitzt, seit etwa vierzig Jahren diesen seinen Körper, den ich wahrnehme, bewohnt und ich keine Ahnung von seiner Existenz hatte, ebensowenig, wie er wusste, dass es mich gibt. Er hat sein ganzes Leben lang die Welt mit und aus seinem Körper heraus die Welt wahrgenommen. Er ist sein eigenes Zentrum. Ich bin ein Stück seiner Umgebung, mehr nicht. Er nutzt seinen Körper in der Weise, in der ich auch meinen Körper nutze: indem ich mich in der Welt bewege, Eindrücke aufnehme, sortiere und aus meinen im Gehirn abgelegten Eindrücken Vorstellungen generiere, aus den Vorstellungen Ziele entwickle und mich gemäß dieser Ziele in der Welt bewege, Eindrücke aufnehme usw. usw. Ich habe vor dieser Zugfahrt nicht gewusst, dass dieser Mann existiert und ich werde ihn schon bald, nachdem ich ausgestiegen bin, vergessen haben und er mich genauso - sollte ich überhaupt bis in sein Bewusstsein vorgedrungen sein. - Oh, doch, vorgedrungen scheine ich zu sein: er hat mich angelächelt ... :-)

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