Entbehrung und Überdruss

 

Abdu hatte alles hinter sich gelassen. Krieg, Terror, Krankheit, Hunger. Alle, die ihm etwas bedeutet hatten, waren tot. Seine Eltern, seine Großmutter, seine Brüder Wana und Kadi, seine Schwester Siva. Wo das Haus gestanden hatte, tat sich ein Bombentrichter auf. Nur er hatte Glück gehabt. Weil er an diesem Tag länger als sonst unterwegs gewesen war, um Essen zu beschaffen. So war er davongekommen, ein siebzehnjähriger Junge, dessen Familie das Pech hatte, in Grenznähe zu wohnen und infolge eines Irrtums ausradiert zu werden. Der Krieg tobte im Nachbarland, nicht hier, doch auch Piloten können sich irren. Kollateralschaden, hatte es lakonisch geheißen, doch für Abdu  war es der Untergang der Welt, so wie er sie kannte.
Er floh vor dem Grauen dessen, was ihm in die Augen stach: zerfetzte Leichen und Blutlachen, die aussahen wie Teiche aus Sirup. Er floh vor dem sich immer weiter ausbreitenden „territorialen Konflikt“, floh vor den sich ausbreitenden Seuchen. Als der Krieg nach dem Vorgeplänkel endgültig über die Grenze kam und nun noch mehr Bomben vom Himmel fielen, hatte Abdu sich hungernd und frierend schon bis Deutschland durchgeschlagen.
Als Kriegsflüchtling schließlich anerkannt, hangelt er sich von Aushilfsjob zu Aushilfsjob, putzte Toiletten, sammelte Abfälle in Parkanlagen auf, pflückte Erdbeeren, stach Spargel und stapelte Paletten. Abdu klagte nicht. Wenn er tagsüber bis zur Erschöpfung schuftete, hatte er nachts Ruhe vor den Alpträumen, in denen er die Leichen seiner Mutter und seiner Schwester vor sich sah, mit verrenkten Gliedmaßen und leeren Augenhöhlen. Das eigentlich Schreckliche war, dass sie langsam aufstanden, auf ihn zukamen und ihn mit sich ziehen wollten.

Als Abdu gerade damit beschäftigt war, einen Gehsteig zu kehren und herumliegende Burgerverpackungen, Zigarettenkippen und Essensreste einzusammeln dachte er wieder darüber nach, wie er es anstellen könnte, eine Ausbildung als Krankenpfleger zu machen. Er sehnte sich danach, einen richtigen Beruf zu haben, einen Beruf, in dem er anderen helfen konnte. Er sehnte sich danach, eine Familie zu gründen. Er sehnte sich danach, ein Leben zu führen wie Tausende andere auch. Nicht am Rand zu stehen, sondern mittendrin zu sein. Besenschwung für Besenschwung näherte er sich der Brücke. Nur noch etwa tausend Meter, dann war „Halbzeit“ und er würde die Straße überqueren und sich den Gehsteig auf der anderen Seite vornehmen. Da fiel ihm der Mann wieder auf, der auf der Brücke stand. Er befand sich schon eine ganze Weile dort, eine reglose Gestalt, hinunter in das Wasser schauend.
Abdu wunderte sich. Der Mann trug einen gutgeschnittenen dunkelgrauen Anzug und hatte eine schmale Aktentasche zwischen seinen Füßen stehen. Was wollte der hier? Und wieso guckte er in den Fluss? Dort gab es nichts zu sehen, nicht einmal ein Schiff oder ein Boot oder wenigstens Enten und Schwäne.

Sherman McCoy blinzelte. Die Reflexe der Sonnenstrahlen, die auf die Wellen knallten, taten ihm in den Augen weh.
Wenn ich nicht so lange gezaudert hätte, wäre jetzt schon alles vorbei, dachte er. Ich läge unten auf dem Grund des Rheins und alles wäre gelaufen. Jetzt kommt dieser verdammte Straßenkehrer. Wenn der schwimmen kann, springt er hinterher. Oder er rennt weg und alarmiert Gottweißwen. Also warten, bis er hier fertiggekehrt hat. Sherman seufzte und schloss die Augen. Ich habe das alles so satt. Ich will nicht mehr. Ich will überhaupt nichts mehr.

Sherman McCoy stammte aus einer alteingesessenen Bostoner Kaufmanns­familie. Die McCoys machten schon seit Generationen ihr Geld mit der Produktion von Sturmgewehren – halb- und vollautomatisch repetierenden Schusswaffen in kleineren bis mittleren Kalibern. Krieg war immer irgendwo, also wurden auch Gewehre immer gebraucht. Nicht zu vergessen das private Schutzbedürfnis von Millionen Amerikanern. McCoy Sherman war in einer Villa mit Dienstboten aufgewachsen und es gewohnt, sich als Bestandteil der gesellschaftlichen Elite verstanden. Er hatte Betriebswirtschaft und Jura in Havard studiert und immer nur eines gewollt: den Erwartungen seines Vaters entsprechen. Das war ihm gelungen. Sherman hatte das Unternehmen an die Börse geführt und brillierte als kluger Kopf auf dem internationalen Parkett. Er war jetzt fünfzig Jahre alt und hatte es geschafft, ganz nach oben zu kommen, hatte alles, was man sich nur wünschen konnte. Die Zeitschrift „Garden and Gun“ hatte ihn schon zum zweiten Mal zum Unternehmer des Jahres gekürt.

Als sein Vater im letzten Jahr völlig unerwartet an einem Schlaganfall gestorben war, hatte er reagiert, als habe er einen Schlag auf den Kopf bekommen. In seine Trauer hatten sich Erleichterung, Wut und etwas wie Häme gemischt. Sofort hatte er Scham und Schuld deswegen empfunden, und dennoch überfiel ihn in den unpassendsten Situationen plötzlich der Drang, in Gelächter auszubrechen. Das erschreckte ihn. Schließlich war der Cocktail aufbrechender Gefühle in diese merkwürdige Lähmung gemündet, die nun in den letzten Wochen immer mehr von ihm Besitz ergriffen hatte. In Sitzungen des Aufsichtsrates und in den Aktionärsversammlungen keimten Gefühle der Sinnlosigkeit auf. Nichts machte mehr Spaß, nichts vermochte mehr ihm einen Kick zu geben. Weder der neue Ferrari noch seine Yacht, noch Luxusreisen, noch sexuelle Abenteuer. Alles fühlte sich dumpf und schal an. Hatte er das doch alles schon tausendmal erlebt. Auf Neues, Ungewohntes hatte er aber auch keine Lust. Alles zu mühsam, alles zu anstrengend. Am Morgen überhaupt aus dem Bett zu kommen, war zum energiezehrenden Kraftakt geworden. Und auch diese Geschäftsreise nach Köln empfand er nur als eine weitere Station in der endlos scheinenden Reihe nervtötender Aktivitäten. Dabei war er immer besonders gerne in Köln gewesen, hatte sich der Stadt verbunden gefühlt, weil seine Vor-Vorfahren aus dem Rheinland gekommen waren. Jetzt nicht mehr. Er hielt sich nirgendwo mehr gerne auf.

Abdu musterte den Mann. Er hatte sich ihm nun mit seinem Kehrwagen bis auf wenige Schritte genähert. Irgend etwas stimmte da nicht, er hätte nicht genau sagen können, was es war. Vielleicht die Haltung des Mannes, vielleicht sein Blick. Er sah irgendwie ... erloschen aus. So wie Anadi, die alte Frau, die neben Abdus Familie gewohnt hatte. Anadi, die Verwandte im Nachbarland gehabt hatte. Wie sie ausgesehen hatte als die Nachricht kam: Alle tot. Erschossen von marodierenden Aufständischen.

Abdu zauderte. Es war nicht üblich, einen Fremden anzusprechen und schon gar nicht einen, der reich und mächtig aussah. Zudem hatte er noch seine liebe Not mit der deutschen Sprache. Also, am besten einfach weitergehen. Was ging es ihn überhaupt an? Der Mann könnte wütend werden. Er könnte sich belästigt fühlen. Er könnte ihm Probleme machen.
Und doch nahm Abdu all seinen Mut zusammen, blieb vor dem Mann stehen und erreichte durch sein Verharren, dass dieser sich umwandte und ihn ansah. Abdu probierte ein möglichst freundliches Lächeln „Du will reden?“ sagte er und deutete dann auf sich. „Ich da.“

Sherman starrte den Straßenkehrer an. Er hatte dunkle Haut, lockiges schwarzes Haar, war groß und sehr dünn. Er trug ein schmutziges graues T-Shirt und ebenso schmutzige, abgetragene Jeans. Ein junger Kerl, kaum zwanzig Jahre alt. Was bildete der sich ein? Ihn, Sherman, einfach anzumachen! Wusste der nicht, wen er vor sich hatte?
Natürlich konnte er das nicht wissen, wie auch, dachte er dann. Sein jäh aufgeflackerter Zorn sank in sich zusammen. Und spielt das überhaupt eine Rolle? Ist doch egal. Er wandte den Blick ab.
„Nein“, sagte er, „ich will nicht reden.“ Dann machte er wieder einen Schritt auf das Geländer zu und betrachtete erneut das Wasser, wie es träge dahinfloss. Noch immer tanzten Sonnenstrahlen auf den Wellen. Er hörte, wie sich der Straßenkehrer mit seinem Karren langsam entfernte.

Abdu kehrte weiter seine Straße und sammelte weiter Abfälle auf. Er pfiff leise vor sich hin. Zug um Zug näherte er sich dem Ende der Straße.

Sherman sprang.

 

Sigrid Engelbrecht, Dezember 2012