Karolin

Ein Drama aus der Nachkriegszeit in fünf Szenen

Erste Szene

Karolin saß mit einem Becher Malzkaffee in der Hand auf der schmalen Steinmauer. Sie warf einen kurzen Blick hinüber zu den anderen Feldarbeitern, die sich um den großen Holztisch versammelt hatten und ihre Brotzeit auspackten. Obwohl schon September, brannte die Sonne heiß vom Himmel und die Sitzgruppe unter dem Ahornbaum war das einzige schattige Plätzchen. Doch Karolin hatte trotz der Hitze keine Lust, sich dazuzusetzen. Neben ihr stand ein großes Einweckglas, dessen Schraubdeckel sie sorgfältig verschlossen hatte. Darin schwammen in einer trüben Flüssigkeit Dutzende Kartoffelkäfer. Karolin hasste das Ablesen der Käfer von den Pflanzen. Es war eine monotone, stumpfsinnige Arbeit und spätestens nach einer Stunde tat einem der Rücken weh. Und das Ausleeren des Einweckglases in den großen Bottich fand sie einfach nur eklig.
Karolin trank einen Schluck Kaffee und lächelte versonnen. Hannes! Wie er sie angeschaut hatte heute morgen, als sie auf dem Weg zum Feld am Haus seiner Eltern vorbeigekommen war. Plötzlich stand er da und blickte sie an. Ihr Herz hatte gleich wie wild geklopft und nur mit Mühe brachte sie „’n Morgen Hannes“ heraus. Seine großen blauen Augen, ach, diese Augen! Karolin seufzte. Sie wünschte sich mehr als alles andere, hübscher zu sein, nicht so eine dürre Bohnenstange mit dünnen mausbraunen Zöpfen. Hatte sein Blick bedeutet, dass sie ihm aufgefallen war? Vielleicht mochte er sie ja auch ... wenigstens ein bisschen? Seinen Blick hatte sie nicht deuten können. Interesse? Oder bloß ein Zur-Kenntnis-nehmen? Aber er hatte sie angelächelt. Das musste doch etwas bedeuten!
Karolin drehte die Tasse in den Händen, nahm dann noch einen Schluck. Hunger hatte sie nicht. Ihre Wangen glühten. Mag er mich – oder lächelt er einfach nur alle Mädchen an? Bedeute ich ihm etwas?
Als Mädchen konnte man da ja nicht viel machen. Nur warten und hoffen, das hatte ihre Mutter ihr ein ums andere Mal eingetrichtert. Ein anständiges Mädchen durfte auf keinen Fall den ersten Schritt machen.
Karolin wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß aus der Stirn. Sie wünschte sich, heute nicht dieses verwaschene alte Kleid anzuhaben, das an ihr herunterhing wie ein Kartoffelsack. Doch am Sonntag... am Sonntag würde sie das leichte Geblümte tragen, das mit den Rüschen um den Ausschnitt herum und dem weit schwingenden Rock. 
Ob Hannes am Sonntag ins Vereinshaus zum Tanzen kommen würde? Es wäre so schön, in seinen Armen dahinzugleiten. Karolin tanzte für ihr Leben gern und lebte eigentlich nur von Sonntag zu Sonntag.
„Karolin!“ Die Stimme ihrer Mutter drang ihr ans Ohr. „Hör auf zu träumen! Komm her! Wir machen weiter!“

Zweite Szene

Als Karolin ins Wohnzimmer trat, stand Johann Pferch am Fenster und blickte hinaus auf die Weide, wo die Schafe vor sich hingrasten. Die Sonne stand tief im Westen. Bald schon war es an der Zeit, die Schweine zu füttern und die Kühe zu melken. Johann Pferch wandte sich um. Er war ein großer, breitschultriger Mann mit kurzem grauen Haar und wasser­blauen Augen. Karolins Herz klopfte. Sie hatte „Respekt“ vor ihrem Vater, was nur ein anderes Wort war für schreckliche Angst. In seiner Gegenwart fühlte sie sich immer klein und unwert. Nicht allein deswegen, weil sie „nur das Mädchen“ war, sondern auch, weil sie ihm nie etwas recht machte. Ihm nicht und ihrer Mutter auch nicht. Alle Liebe der Eltern konzentrierte sich auf ihren Bruder Martin. Martin – der ersehnte Stammhalter, war neun Jahre jünger als sie selbst. Seitdem er auf der Welt war, war es noch schlimmer geworden. Sie fühlte sich nicht wie eine Tochter, sondern eher wie eine Dienstmagd. Ihr Vater redete nur dann mit ihr, wenn er ihr eine Arbeit zuwies oder sie wegen irgend etwas seinen Zorn auf sich gezogen hatte. Dementsprechend zaghaft sah sie nun ihren Vater an. Was mochte er von ihr wollen?
Johann Pferch betrachtete seine Tochter wie sie da stand, den Blick zu Boden gerichtet, die Schultern etwas gebeugt. Eigentlich war sie ja ganz hübsch, nur eben etwas schüchtern. Fast alle ihre ehemaligen Klassenkameradinnen aus der kleinen Volksschule im Ort waren schon verheiratet. Oder zumindest verlobt. Andererseits wurde Karolin auf dem Hof nötig gebraucht und deswegen hatte Johann bisher alle jungen Kerle von Karolin ferngehalten. Sie arbeitete zügig und zuverlässig und schaffte gehörig was weg. Andererseits war sie nun schon fast zwanzig. Zeit, eine Familie zu gründen, wenn sie nicht als alte Jungfer enden wollte. Und das wollte Johann denn doch nicht. Er wollte Enkelkinder auf seinen Knien schaukeln und mit ihnen die Enten und die Hühner füttern. Was also tun? Im nächsten Jahr wurde Karolin volljährig – und auf keinen Fall sollte sie dann mit irgendeinem Dahergelaufenen auf und davon gehen. Oder jemanden heiraten, wo es in der Familie so viel Arbeit gab, dass sie auf dem Hof nicht mehr mit anpacken konnte. Nun endlich hatte Johann die ideale Lösung gefunden.
„Pass mal auf...“ fing er an und setzte ihr dann auseinander, weshalb es für sie von Vorteil war, den Nachbarssohn Günther Fahrenbach zu heiraten.
Nach einem zaghaften Einwand „... aber der ist doch viel zu alt“ und seiner prompten Entgegnung „nur sieben Jahre, das ist fast nichts“, sagte sie gar nichts mehr. Sie saß nur da, die Schultern noch mehr gebeugt, und schaute auf den Fußboden. Als Johann Pferch schließlich damit endete, er wolle sie natürlich zu nichts zwingen, und sie solle einfach mal darüber nachdenken, grub sie ihre Zähne in die Unterlippe. Bloß nicht weinen. Der Vater hasste Tränen.

Dritte Szene

Karolin vergrub ihr Gesicht in das lockige Fell des Kälbchens, das gerade die Nuckel­flasche mit dem Kraftfutter leergesaugt hatte. Ihr Gesicht war tränennass.
Was soll ich bloß tun?
Günther Fahrenbach war der ältere Bruder ihres früheren Spielgefährten Erich. Schon vor dem Krieg war er ein ernster junger Mann gewesen, wortkarg und in sich zurück­gezogen. Ein Einzelgänger ohne Freunde. Günther hatte sich mit siebzehn freiwillig zur Armee gemeldet. Da war sie selbst erst zehn Jahre alt gewesen. Sie sah ihn vor sich, wie er damals für drei Tage seine Eltern besucht hatte. Blass, pechschwarzes Haar, große braune Augen in einem angespannt wirkenden Gesicht, die Wehrmachtsuniform etwas zu weit für den schlaksigen Körper. Und jetzt? Erich war ein Opfer der Bomben geworden und Günther einer der letzten, die aus der russischen Gefangenschaft zurückgekommen waren, noch viel dünner, angespannter als zuvor und mit eine ungesunden gelblichen Gesichtsfarbe. Die Leber, sagte man im Dorf. Und ihn sollte sie heiraten? Sie schluchzte. Das Kälbchen riss sich aus der ungewohnten Umarmung. Karolin stand auf. Ihre Knie zitterten. Trotz der Wärme im Stall war ihr kalt. Langsam ging sie aus dem Verschlag heraus und schlang beide Arme um sich.
Hannes. Sie wollte doch ihn und nicht Günther. Günther tat ihr Leid. Man munkelte, er habe schlimme Dinge in der Gefangenschaft erlebt und wäre fast gestorben. Aber ihn heiraten? Sie schüttelte den Kopf. Was sollte sie nur tun? Sich dem Vater widersetzen? Und dann? Ja, wenn sie sich sicher wäre, dass Hannes sie liebte ... aber so?
Weggehen kann ich nicht, dachte sie. Ich habe nichts lernen dürfen. In meinem Pass steht als Beruf „Haustochter“. Wovon sollte ich leben? Und wenn ich nein sage und dableibe, dann wird Vater mir das nie vergeben. Er wird mich nicht zwingen, den Günther zu heiraten, das stimmt schon, aber wenn ich es nicht tue, wird er es mich spüren lassen, jeden Tag. Das halte ich nicht aus. Was soll ich bloß tun?

Vierte Szene

Karolin saß auf den Strohballen ganz hinten im Stall. Hier war es so dunkel, dass man von den Verschlägen und Gerätschaften nur die Umrisse erkennen konnte. Es roch nach Kühen, Schweinen und Stroh. Sie wusste, dass sie längst hätte in der Küche sein sollen, um der Mutter bei der Zubereitung des Abendessens zur Hand zu gehen, doch sie konnte nicht aufhören zu weinen. Sie hatte den Kopf in den Armen vergraben und schluchzte. Ein paar Mal hatte sie schon geglaubt, jetzt keine Tränen mehr zu haben und war aufgestanden, um hinauszugehen, war aber dann erneut aufschluchzend wieder in sich zusammengesunken.
„Karolin?“
Sie schreckte hoch. Vor ihr stand ihre Großmutter.
Kathinka Pferch setzte sich neben ihre Enkelin auf den Strohballen. Sie schwieg.
Karolin weinte jetzt wieder stärker. Die Großmutter strich ihr leicht über den Rücken und nahm sie dann in die Arme. Karolin wehrte sich nicht. Sie schmiegte sich an die alte Frau und sog den vertrauten Geruch nach Minze und Kampfer ein. Kathinka hielt sie fest umfangen. So saßen die beiden eine ganze Weile da.
Schließlich löste sich Karolin und setzte sich wieder auf.
„Ich soll den Günther heiraten.“ Schon wieder fühlte sie Tränen aufsteigen, doch jetzt schluckte sie sie hinunter.  „Ich will nicht. Es ist so schrecklich. Kannst du nicht mit Vater reden?“
Kathinka nickte, sagte aber nichts. Mit ihrem Schwiegersohn reden war ähnlich wie mit einem zugefrorenen Weiher reden zu wollen.
Karolin raffte ihren ganzen Mut zusammen und sagte dann: „Ich ... ich mag nämlich den Hannes.“ Ihre Großmutter war der einzige Mensch, dem sie das gestehen konnte.
„Ist da etwas zwischen euch beiden, zwischen dir und Hannes?“
Karolin sah sie erstaunt an, dann schüttelte sie den Kopf. „Nein! Ich weiß nicht, ob er sich etwas aus mir macht.“ Sie spürte, dass sie errötete und war froh, dass es so dunkel im Stall war. „Aber ich mache mir etwas aus ihm!“
Kathinka seufzte und umfasste Karolin wieder fester. „Rede dir nichts ein“, sagte sie dann, „der Hannes, der heiratet die Thea.“
„Nein!“ Karolins Schrei gellte durch den weiten Raum. Sie schlug die Hände vor das Gesicht. „Das ist nicht wahr!“
Die Kühe muhten unruhig und die Schweine rannten quiekend in ihrem Verschlag durcheinander.
„Doch. Es ist so. Ich weiß es von Mina.“ Mina war Hannes’ Mutter.
Karolin riss sich los und rannte aus dem Stall.

Fünfte Szene

Die Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt als Karolin am Arm ihres Vaters zu den Klängen der großen Orgel den Mittelgang entlang schritt. Johann Pferch, der nie viel Aufwand für seine Tochter zu treiben pflegte, hatte sich das feine weiße, mit Spitze besetzte Brautkleid etwas kosten lassen. Der Schleier umspielte ihr schmales Gesicht. Das nun kinnlange, in Locken gelegte Haar brachte ihre feinen Gesichtszüge gut zur Geltung. Karolin erkannte aus den Augenwinkeln ihre Nachbarn, einige ihrer ehemaligen Klassenkameradinnen und auch Hannes, der mit Thea und seinen Eltern in der dritten Reihe saß. Ihr war leicht übel, doch sie lächelte tapfer. Rechts vor dem Altar stand Günther in seinem dunklen Anzug. Ein wenig verloren sah er darin aus, Hose und Jacke mindestens eine Nummer zu weit. Er sah Karolin an und seine Augen strahlten. Auch wenn er lächelte, wirkte er melancholisch. Günther hatte immer etwas Trauriges an sich, sogar heute.
In der ersten Bank saßen die Mutter, die Großmutter und Martin, alle in ihren besten Kleidern, daneben, jedoch mit einigen Armlängen Abstand dazwischen,  die Eltern von Günther. Seine Mutter hieß genau wie sie selbst jetzt heißen würde: Karolin Fahrenbach.  
Die Orgelklänge schmerzten ihr in den Ohren, ganz kurz wünschte sie sich, der Boden möge sich auftun und sie verschlingen und alle anderen mit ihr, möge die ganze Kirche verschlingen und das ganze Dorf.

Dann gab sie sich einen Ruck, verstärkte ihr Lächeln und schritt beherzt ihrem künftigen Mann entgegen, dem Mann, mit dem sie 26 Jahre verheiratet sein würde und dessen Traurigkeit sich als ein Abgrund erweisen sollte, der Karolin dann unbarmherzig in sich hineinsog, jeden Tag ein Stückchen mehr.

Sigrid Engelbrecht, März 2013