Neulich des Nachts


„Los, weg, weg.“ Tom Winterfeldt, der in großem Tempo vom Hügel heruntergestürzt kam, packte seine Frau, die auf ihn gewartet hatte, beim Handgelenk und zog sie mit sich.

„Au! Was ist denn los?“ Sarah wäre fast gefallen.

Tom antwortete nicht, sondern hielt ihre Hand fest umklammert, so dass ihr gar nichts anderes übrigblieb als hinter ihm herzuhasten.

„Was ist los?“ keuchte sie, „Hat wer aufgemacht? Gab’s ein Telefon? Hast du jemand erreicht? Sag doch endlich!“

Tom verlangsamte schließlich seinen Schritt, warf einen raschen, furchtsamen Blick hinauf zum Haus, wo immer noch Licht brannte und blieb dann stehen, wobei er sich aber immer wieder umsah und in die Dunkelheit spähte. Sarah blickte ihn an.

„Es gab keine Klingel“, sagte er endlich, „deswegen hab’ ich an die Tür geklopft. Nach einer Weile kam so ein alter Mann und machte auf. Er war bestimmt schon über achtzig.“

„Ja, und?“

„Ich erklärte ihm halt, dass wir eine Panne haben und fragte, ob ich telefonieren könnte. Der Alte hatte so ein komisches Lächeln, und als er das Wort Telefon hörte, da grinste er noch mehr. Er winkte mir mit der Hand, und so ging ich rein.“

Tom warf wieder einen schnellen Seitenblick hinauf zum Haus auf dem Hügel.

„Innen sah es total verwahrlost aus, überall Staub und Schmutz, das ist mir gleich aufgefallen. Außerdem roch es so komisch vergammelt.“

„Igitt.“ Sarah schüttelte sich. Langsam gingen die beiden nebeneinander her.

„Ich fragte noch mal nach dem Telefon, aber der Alte kicherte bloß und deutete mit dem Daumen auf eine breite Tür. Ich ging rein. Es war ein Wohnzimmer mit Plüsch und so. Da hockten zwei Frauen und zwei kleine Mädchen in altmodischen Kleidern da in so 'nem düsteren Lampenschein."

„Ja, hatten die nun Telefon oder nicht?“ fragte Sarah ungeduldig. Es machte sie nervös, dass Tom sich dauernd umblickte.

„Ich wollte mich gerade für die Störung entschuldigen, da hab’ ich erkannt, dass die gar nicht mehr leben, die waren schon halbverwest. Es stank fürchterlich. Als ich mich umdrehte, stand da der Alte mit glänzenden Augen, und er hatte so ’ne Art Fackel in der Hand und kam langsam auf mich zu.“

Sarah entfuhr ein Schrei. Nun war sie es, die sich schnell in Bewegung setzte und ihn mitzog. Hand in Hand stolperten die beiden durch die Nacht. Diesmal sahen sie sich beide ständig um. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie die Hauptstraße erreichten. Inzwischen war es schon nach Mitternacht geworden. Sie übernachteten in einem Heuschober kurz vor Aichig.

Als die Winterfeldts ihre Geschichte auf dem Polizeirevier in Bayreuth erzählten, ernteten sie nur ungläubiges Kopfschütteln.

„Und ich sage Ihnen, Wachtmeister, da steht ein Haus!“

Tom war sehr erregt. Er beschrieb die Gegend und den Hergang der Ereignisse noch einmal eindringlich.

„Ich habe das Haus doch auch gesehen,“ ergänzte Sarah, „das Haus und das Licht.“

Der junge Wachtmeister schüttelte den Kopf.

„In der Gegend steht kein Haus, da kommt bloß noch Sumpf und Heide.“

Auch die Polizeistreife, die Wachtmeister Gradel trotz seiner Skepsis dann doch noch losgeschickt hatte, kehrte ergebnislos zurück. Zwar hatten die Beamten das Auto der Winterfeldts sofort gefunden, jedoch keine Spur eines Gebäudes weit und breit.

Tom bestand darauf, selbst zusammen mit Sarah und dem Wachtmeister hinzufahren. Friedlich lag der Hügel im Sonnenlicht. Birken, Himbeersträucher, Ebereschen. Kein Haus. Tom und Sarah starrten einander an.

Der Wachtmeister murmelte nur „Da sehen Sie’s“, bevor er wieder in seinen Wagen stieg und zurück auf’s Revier fuhr. Tom und Sarah warteten auf den Abschleppdienst. Keiner von beiden sagte etwas.

„Was wollen Sie denn?“ schnaubte der Fahrer des Abschleppdienstes. „Ihr Fahrzeug ist doch tadellos in Ordnung.“ Er ließ den Motor aufheulen. „Da, sehen Sie, alles o.k. Sie haben mich umsonst herkommen lassen.“

„Warten Sie“, sagte Tom mit einem Zittern in der Stimme, als der Mann bereits wieder in den Abschleppwagen einsteigen wollte. Dann erzählte er ihm von dem Haus auf dem Hügel.

„Ja, ja“, sagte der Fahrer und kratzte sich am Kopf, „da hat’s schon mal ein Haus gegeben. Da wohnte der alte Geipel drin mit seiner Frau, seiner Tochter und den beiden Enkeltöchtern. Man sagt, der Alte hätte seine Familie umgebracht und dann, als die Polizei ins Haus wollte, einfach alles angezündet und sich selber auch. Aber“, und dabei sah er die Winterfeldts argwöhnisch an, „das Ganze ist doch schon an die hundert Jahre her...!“