Sehnsucht nach zerrupften Pinseln


Während ich an der Kasse im Supermarkt wartete, hörte ich die Frau vor mir zur Kassiererin sagen: „ja, ich kaufe viel mehr ein als sonst. Wir haben ja auch jetzt zwei Mäuler mehr zu füttern.“

Die Kassiererin blickte kurz auf, schenkte ihr ein rasches, unverbindliches Lächeln und zog weiter die Waren über den Scanner. Am Ende des Laufbandes türmten sich die Lebensmittel. Die Frau begann, die Sachen hastig in mitgebrachte Plastikbeutel zu stopfen. Hinter uns wuchs und wuchs die Warteschlage. Mein Hintermann scharrte ungeduldig mit den Füßen.

„137,50“, sagte die Kassiererin und riss den Bon ab.

„Ja, ja, Moment ... gleich ... „, die Frau kramte in ihrer Handtasche.

„Mein Geldbeutel ... wo ist denn bloß mein Geldbeutel?“

Ein Mann hinter mir räusperte sich vernehmlich. Der Frau fiel die Tasche aus der Hand. Ein Notizheft rutschte heraus, ein abgegriffenes Adressbuch, ein Schlüsselbund, ein Lippenstift, etliche Kugelschreiber– aber keine Geldbörse. Als ich mich bückte, um beim Aufsammeln zu helfen, glitt ich aus und prallte mit der Schulter gegen ihre Hüfte. Sie nahm es, verzweifelt in ihren Manteltaschen wühlend, gar nicht wahr.

Plötzlich erkannte ich sie.

„Frau Hennig!“ entfuhr es mir spontan.

Erstaunt blickte sie auf.

„Ja?“

Nun war ich doch verlegen. Schließlich hatte ich noch nie ein Wort mit ihr gesprochen. Ich kannte ihr Gesicht nur aus Zeitschriften.

„Ich kann Ihnen das Geld auslegen.“ platzte ich heraus. Ohne Zögern nahm sie an.

„Wissen Sie“, sagte sie beim Entsperren der Zentralverriegelung ihres Wagen, „ich stehe zur Zeit kopf. Meine Schwester ist krank – Gallenoperation – und ihre zwei Mädchen sind jetzt bei uns.“

„Da haben Sie sicher viel zu tun?“ keuchte ich, während wir mit vereinten Kräften ihre Lebensmittelberge in den Kofferraum hieften,

„Ein Wahnsinn! Und ich hatte noch nie was mit Kindern zu schaffen.“

„Oh! Dann ist das ja eine große Umstellung.“

„Wie wahr! Anstrengend! Ich komme zu nichts mehr, und meinem Mann geht’s genauso Unmengen zu kochen, zu waschen, zu putzen. Und die zwei sind unberechenbar, sag’ ich Ihnen.“

Sie schüttelte den Kopf und warf den Kofferraumdeckel schwungvoll zu.  Wir stiegen ein. Fast hätte ich mich auf die Geldbörse gesetzt, die auf dem Beifahrersitz lag.

„Na, wenigstens ein Lichtblick“, sagte sie erleichtert, „Geld weg, das hätte mir jetzt grade noch gefehlt.“ Sie bat mich, mir einfach den ausgelegten Betrag herauszunehmen, bedankte sich nochmals ausführlich und fuhr dann beim Anfahren fort: „Diese beiden. Dauernd kommen sie angerannt. Ständig mit was anderem. Und ständig machen sie Dinge kaputt. Gestern die Tastatur vom Notebook. Ausgerechnet!“

Ich nickte mitfühlend. Frau Hennig schrieb historische Romane.

„Wie alt sind denn die zwei?“

„Anne ist fünf und Jessie drei. Jessie hat vorgestern drei Malpinsel meines Mannes zerrupft. Marderhaarpinsel!“

„Hm“, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. Gerade, als ich sie fragen wollte, ob ihr der Umgang mit Anne und Jessie nicht auch Spaß machen würde, waren wir vor meinem Gartentor angekommen.

Ein paar Wochen später traf ich Frau Hennig beim Friseur.

„Na, was macht Ihr Besuch?“

Sie strahlte mich an.

„Meiner Schwester geht’s wieder so einigermaßen. Anne und Jessie sind seit gestern wieder daheim.“

„Ach ja?“

„Eine Ruhe ist das jetzt bei uns, sag’ ich Ihnen, einfach fantastisch! Da weiß man erst, was man hat. Wie ich das genieße! Alles liegt da wo es hingehört, und wir haben wieder Zeit und Muße. Herrlich, nicht wahr?“

Na ja, dachte ich, manche Leute sind halt so.

Im Jahr darauf, kurz vor Ostern las ich in einem Literaturmagazin, dass Frau Hennig einen Band Kindergeschichten veröffentlicht habe, illustriert von ihrem Mann. Die Kritiker äußerten sich sehr positiv dazu, manche sogar ausgesprochen enthusiastisch.

Kindergeschichten! Ich staunte nicht schlecht und beschloss, ihr mit einem dicken Strauß Osterglocken zu ihrem Erfolg zu gratulieren.

Schon als ich mich der Hecke näherte, die die alte Villa umschloss, hörte ich helle Stimmen. Zwei kleine Mädchen öffneten mir die Gartenpforte und sahen mich neugierig an. Sie trugen derbe Jeansoveralls und leuchtend rote Gummistiefel. Beide waren über und über mit Erde verschmiert.

„Hallo“, rief Frau Hennig, ebenfalls in Overall und Gummistiefeln, „kommen Sie doch rein!“

Als sie meinen fragenden Blick bemerkte, lachte sie etwas verlegen.

„Nein, nein, nicht schon wieder eine Gallenoperation. Anita ist mit ihren zwei Lausern zu uns gezogen.“

Sie strich Jessie übers Haar und gab Anne einen zärtlichen Klaps.

„Vielleicht halten Sie mich für rührselig oder so, aber ich hätte nie gedacht, dass mir Anne und Jessie so fehlen würden ...“