Tristram's Stone


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Manche Dinge sind einfach unberechenbar. Hätte Mark geahnt, welche Wendung sein Leben durch ein simples „Ja“ nehmen würde, wo er genauso gut hätte „Nein“ sagen können, dann hätte er wahrscheinlich das „Nein“ so kräftig herausgebrüllt, dass die Wände nicht nur gezittert hätten, sondern auch gleich zusammengestürzt wären. Aber hätte dieses „Nein“ wirklich etwas genützt? War es nicht unabwendbares Schicksal, was da über ihn hereinbrach, ein Schicksal, das ihm - unentrinnbar - eine ganz bestimmte Rolle zugewiesen hatte? So dass es völlig egal war, ob er „ja“, „nein“ oder „tschüss“ gesagt hätte?

Mark, 32, Chef einer 40-köpfigen und stetig expandierendenPR-Agentur, war Niemand, der an Vorsehung oder Schicksalglaubte. In seinem Universum schufen sich die Menschen selbst ihr Schicksal, waren frei in ihren Entscheidungen und verantwortlich für deren Folgen. Mark, der Prototyp des erfolgreichen jungen Firmengründers, schrieb auch in Zeiten wirtschaftlicher Turbulenzen schwarze Zahlen und behauptete, jeder könne erfolgreich sein, wenn er nur wirklich wolle. Aber Mark hatte auch noch andere, weichere Seiten. Mark liebte Isolde. Isolde war Sängerin und „machte alles Mögliche“, wie sie sagte, von Auftritten mit der Band „Lost Camelot“ über ACapella-Gesänge bis hin zu Musicals. Zum Verdruss von Erda und Erwin, den ehrgeizigen Eltern, hatte es mit Isoldes Stimme nicht zur großen Oper gereicht. Erda war ein glühender Fan von Richard Wagners Musiktheater und kannte zumindest von „Tristan und Isolde“, „Parsifal“ und „Lohengrin“ ganze Passagen auswendig. Isolde konnte die „Isolde“ leidlich singen, und Erda begleitete sie manchmal auf dem Klavier.

Isolde, seine Isolde. Mark hatte sie bei einem Interview kennengelernt, und sie hatte ihn sofort bezaubert mit ihren blonden Locken und den großen blauen Augen, ihrer strahlenden und irgendwie unschuldigen Art, ihrer Fähigkeit zu kindlicher Begeisterung und ... ach ja, Mark seufzte. Isolde war leidenschaftlich, kreativ, dickköpfig, widersprüchlich und voller Ideen. Keine Frau war wie sie. Oft konnte er mit ihren Einfällen auchnichts anfangen. Er war niemand, der etwas „einfach so“ machte. Für ihn mussten Dinge effektiv sein, einen Nutzen bieten oder einem sinnvollen Ziel dienen. So reagierte er mit einem gewissen Unmut, als Isolde ihre Reisepläne vor ihm ausbreitete. Cornwall. Sie wollte nach Cornwall.
„Cornwall?“ fragte Mark. Er schaute immer noch entgeistert drein.
„Ja, klar“ erwiderte Isolde, „du weißt dass ich mir das schon ewig lang gewünscht habe.“
Er nickte. Klar, ja, klar. Isolde hatte es tatsächlich schon oft angesprochen, nur, er, Mark, hatte dies eigentlich nicht wirklich ernst genommen. Cornwall. Isolde wollte nach Cornwall.

Seitdem sie beide Karten für die Neuinszenierung von „Tristan und Isolde“ in Bayreuth bekommen hatten, wollte sie umso mehr nach Cornwall - „auf den Spuren der historischen Isolde wandeln“. Mark hielt das insgeheim für einen ausgemachten Blödsinn, aber er hütete sich, dies Isolde gegenüber so zu sagen. Die Geschichte dieses berühmten Liebespaares - Tristan entbrennt als Folge eines irregeleiteten Zaubertrankes in Liebe zu Isolde und Isolde, ebenfalls als Liebestrankopfer in Liebe zu Tristan - kam ihm ziemlich weltfremd und konstruiert vor. Da die Isolde im Drama eigentlich die künftige Ehefrau von König Marke ist und jener zu allem Überfluss auch noch ein Onkel von Tristan, muss die Geschichte natürlich böse ausgehen. Tristan und Isolde versuchen ihre Liebe zu leben, doch sie scheitern damit. Infolge diverser unlösbar ineinander verketteter Missverständnisse endet alles tief dramatisch und tief unglücklich. Tristan stirbt, Isolde stirbt. Mark konnte das nur schwer nachvollziehen. Er freute sich auf die Oper wegen der Musik und des Bühnenbildes und außerdem fragte er sich, ob er vielleicht den einen oder anderen prominenten Menschen am Grünen Hügel mal aus der Nähe sehen würde. Doch das historische Liebespaar? Mark kannte die Geschichte dank Isolde und Erda inzwischen in- und auswendig. Was versprach sich seine Isolde nur davon, der mythischen Isolde hinterherzuforschen?! Im Zeitalter des Internet konnte man sich jegliche Informationen über jegliches Thema nach Belieben herunterladen. Nicht dass Isolde das nicht bereits getan hätte. Aber hinfahren? Mit Urlaub verband Mark nicht „Cornwall“, sondern die Südsee oder den Indischen Ozean. „In England regnet es häufig“, sagte er beiläufig.
„Ach Quark,“ entgegnete Isolde, „nichts als ein Vorurteil. Anne war letzten Sommer drei Wochen in Bath - von Regen keine Spur. Aber“, so fuhr sie fort und strich Mark dabei leicht über den Handrücken, „du musst da nicht mit. Es ist meine Idee. Ich kann auch alleine fahren. Ich habe vollstes Verständnis, wenn du hier bleibst oder woanders hinfährst.“
Mark seufzte. Erwusste aus Erfahrung: Wenn Isolde so etwas sagte, meinte sie es nur exakt für den Moment so, in dem sie es sagte. Danach kamen andere Momente. Und da würde es etwas ausmachen und Isolde würde ihm einen Boykott der Cornwall-Reise übel vermerken und es monatelang bei passender Gelegenheit immer wieder aufwärmen. Außerdem wollte er mit Isolde zusammensein und nicht drei Wochen allein irgendwo herumhängen.
So rang er sich ein Lächeln ab. „Nein, nein, im Prinzip ist das eine interessante Idee.“
„Wir fahren also zusammen?“
„Ja.“ sagte Mark. Isolde strahlte.

Und so standen Isolde und Mark ein paar Wochen später Armin Arm an der Reling der Fähre nach England und genossenSonne und Seeluft. Alles schien ganz wunderbar zu sein, doch Mark spürte ab und zu den Anflug eines unguten Gefühls und wäre dann am liebsten wieder umgekehrt. Es war nicht die Skepsis hinsichtlich des Urlaubswetters, es waren auch nicht Land und Leute. Irgendwie hatte es mit Isoldes Vorhaben zu tun. Als die Fähre in Dover andockte, hatte sich Marks ungutes Gefühl so sehr verstärkt, dass er am liebsten Isolde gepackt hätte und mit ihr sofort wieder zurück gefahren wäre.
Isolde dagegen war guter Dinge.
„Es wird sicher ganz wunderbar“,sagte sie am Abend im Hotelzimmer.
Mark, der ihr ebensokonzentriert wie liebevoll die verspannten Nackenmuskeln massierte, nickte gedankenverloren.
„Morgen fahren wir durch bis Cornwall. Am meisten gespannt bin ich auf Tintagel. Wusstest du, dass das der Hauptschauplatz gewesen ist?“
Mark wusste es. Isolde hatte dies schonmindestens dreimal erwähnt.
„Tintagel liegt direkt am Meer. Es ist bestimmt total romantisch.“
Isolde räkelte sich. „Aaaah, du machst das ganz prima, ich fühle mich schon viel besser. Wir haben ja ganz schön viel vor, nicht wahr?“
In der Tat. Isoldes Route sah vor: Boscastle, Tintagel, dann ein kleiner Ort namens Fowey, wo sich ein Monolith namens „Tristram’s Stone“ befinden sollte, dann natürlich Glastonbury Tor, das berühmte Avalon, einen Tafelberg namens Cadbury Castle, der als einer der legendären Standorte von König Artus’ Schloss Camelot galt, Dozmary Pool, wo Viviane das Schwert Excalibur zurückgenommen haben sollte und Camlann, dem Schauplatz von Artus’ letzter Schlacht. Alles rund um den Artus-Mythos, den Gralsritter Tristan und seiner Lebensleidenschaft Isolde.

Wenige Tage später saß Mark alleine in der Lounge des „Fowey Hall Hotel“ und schaute in sein Glas „Entire Stout“ Bier. Er hatte sich am gestrigen Tag und auch am Tag davor mit Isolde inmitten gewaltiger Touristenmassen durch die Ruinen von Tintagel gewälzt. Viel gab es dort nicht zu sehen. „Steine und Gras“, wie Mark ironisch bemerkt hatte, doch Isolde hatte ihm gar nicht zugehört, hatte nur immerzu geschaut, fotografiert, den jeweiligen Standort mit einer Geländekarte verglichen, manchmal aufgeregt vor sich hingemurmelt und weiter fotografiert. Sie war von so ziemlich allem entzückt gewesen. Entzücktund zunehmend auch entrückt. Mark war sich überflüssig
vorgekommen. Zudem war das mulmige Gefühl stärker geworden.

Nun war Isolde unterwegs zu „Tristram’s Stone“ (Tristans Stein) - und Mark fühlte sich etwas überfordert. Er konnte sich gut vorstellen, dass Isolde Dutzende von Aufnahmen von diesem Stein machen würde inklusive der Inschrift „Drustanus hic iacet cunomori filius“ (Hier ruht Drustanus, Sohn des Cunomorus - wobei mit Drustanus natürlich Tristan und mit Cunomorus der Bruder König Markes gemeint war). Isoldes Suche. Wonach? Ein Hobby? Ein Spiel? Mark wusste es nicht . Ihm schien es die Ausmaße einer mittleren Besessenheit angenommen zu haben. Am Abend hatte Isolde ein langes, reich verziertes rotes Kleid angezogen - an einem der zahlreichen Touristenstände in Tintagel erworben - „really historical“ , wie die Verkäuferin mit einem bedeutungsvollen Blick behauptet hatte. Ob „historical“ oder nicht: Isolde sah umwerfend darin aus. Sie hatte dann eine Arie aus dem zweiten Akt der Oper komplett auswendig gesungen und ihm Passagen aus Geoffrey Ashes „Mythology of the British Isles“ vorgelesen und immer wieder gefragt, wie es denn gewesen wäre, wenn die beiden den Trank nicht getrunken hätten: Hätten sie sich trotzdem verliebt? Er hatte es längst aufgegeben, ihr zu sagen, dass dies Alles eine zwar bezaubernde, aber doch legendäre Geschichte sei und im Grunde Niemand wüsste, ob es Tristan und Isolde überhaupt jemals gegeben hatte oder ob dieses Drama einfach ein kondensierter Extrakt menschlicher Träume und Vorstellungen über Generationen hinweg war. Eine archetypische Konstellation, eine Art Ur-Drama, schön und ergreifend, aber eben ein Traum und Nichts weiter.

Mark, hier und jetzt im Jahr 2005 liebte Isolde, hier und jetzt imJahr 2005. Er wollte sie heiraten. Sie mochte manchmal etwas launisch und vielleicht auch traumtänzerisch sein, aber, Himmel, sie war eine hinreißende Frau mit all ihrer Phantasie und Lebenslust. Na gut, ab und zu war vielleicht auch etwas überdreht, aber das würde sicher vorübergehen. Vielleicht sollte er sie einfach machen lassen. Sie unterstützen statt sich abzuseilen. Vielleicht war diese Besessenheit umso schneller vorbei, umso mehr er diese Welt mit ihr teilte. Neben Isoldes wachsender Identifikation mit der mythischen Isolde verwirrte Mark vor allem auch die unübersehbare Vielfalt der Mythen um dieses Paar. Da gab es die Wagner-Oper in vielfältigen Inszenierungen, die unvollendete Dichtung des Gottfried von Strassburg, aber auch Versromane der Dichter Thomas von Brittannien und Béroul, und eine ganz frühe vollständige Fassung des mittelhochdeutschen Dichters Eilhart von Oberge aus dem 12. Jahrhundert.
„Wenn das so weitergeht“, sinnierte Mark, dann kann ich mit Isoldes angesammelten Papierbergen eine Doktorarbeit schreiben.“
Er sah aus dem Fenster. Es regnete. „Sie wird nass werden mit ihrem Kleid“, dachte er. Und nahm noch einen Schluck von seinem Stout.
Zwei weitere Stouts später wirbelte Isolde herein; das rote Kleid war in der Tat ziemlich nass und Regen tropfte ihr aus dem Haar. Ein paar Schritte hinter ihr betrat, etwas zögernd, ein Mann den Raum, sehr groß, hager, mit schütterem blonden Haar. Er trug eine Art altertümlichen Anzug aus grobem bräunlichem Leinen.
„Hey Mark“, strahlte Isolde, „Du hast echt was verpasst! Darf ich vorstellen: Tristan, äh, ich meine: Sir Tristram.“ Der hagere Mann schaute etwas verwirrt drein und blickte dann Mark direkt an. Er hatte wässrigblaue Augen.
„Und das Schärfste“, fuhr Isolde fort, „ich hab ihn beim Monolithen getroffen. Grade als ich die Inschrift gelesen hab’, da stand er auf einmal neben mir. Ist das nicht ein wahnsinniger Zufall?“
„Ja,“ bestätigte Markohne den hageren Mann aus den Augen zu lassen, „ganz wahnsinnig.“

„O sink hernieder, Nacht der Liebe, gib Vergessen, dass ich lebe ...“
erklang der brüchige Bariton des Fremden in hartem cornischen Akzent, und der klare Sopran von Isolde fiel ein: „... nimm mich auf in deinen Schoss, löse von der Welt mich los!“
Und dabei blickte sie zu dem hageren Mann auf, mit dem typischen strahlenden Isolde-Lächeln, das Mark so sehr an ihr liebte.